„Meine Märchen sind für Erwachsene“ (12 Fragen an Geschichtenerzählerin Rosalia)

Rosalia habe ich beim Basketball kennengelernt. Sie (39, Diplom-Kauffrau, geboren in Ecuador) spielt in unserem Damen-Hobby-Team. Ihre Stärke auf dem Feld  ist der Jump Shot und abseits ihre Herzlichkeit. Auf Patchinkos Hochzeit hat sie 10 Rum-Cola, 7 Tequilas und diverse andere Kurze getrunken – und nix davon gespürt. Sie lacht viel und isst gern. Ich glaube, so ungefähr stelle ich mir Menschen aus Ecuador vor. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie Märchen schreibt. „Agucho und der Kobold aus den Anden“ (pdf) hat sie bereits im Museum für Völkerkunde vorgelesen.

Rosalia über ihre Märchen-Oma, gut gemeinte Ratschläge 
und Essensgewohnheiten in ihrer alten Heimat.
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Rosalia: „Das Foto ist der Hammer: meine Oma, meine Mutter, meine Schwester und ich als Kind.“

1) Ecuador in fünf Worten, bitte.
Das ist schwer, aber ich versuch’s: Vielfältig. Lächelndes, nettes Volk. Traditionell. Hobbits-Land. Stolz.

 2) Das waren 7 Worte. Du darfst gern ausholen 😉
Vielfältig, weil es eine große Vielfalt aus Menschen, Natur, Tieren und Essen gibt.

Wir lachen, egal in welcher Situation gerade uns befinden. Wir lachen mit Dir, niemals über Dich.

Ecuador ist sehr traditionell. Und 100% katholisch. Sex ist immer noch ein Tabu, man muss vorher heiraten. Wenn du nicht verheiratet bist, lebst du bei den Eltern.

Ecuador ist ein Land der kleinen Leute. Ich bin mit 1,70 Metern eine große Frau! Außerdem gibt es jeden Tag so viele Mahlzeiten, die rigoros eingenommen werden müssen. Wir sind also klein und ständig am essen – so wie die Hobbits!

Wir sind stolz Ecuadorianer zu sein. Ich bin stolz aus diesem Land zu kommen, obwohl ich auch Deutsche bin. Meine Seele ist in Ecuador. Ich liebe Ecuador!

3) Warum schreibst Du die Märchen Deiner Oma auf?

Bei den indianischen Völkern gab es – bevor die Spanier die neue Welt entdeckten – keine schriftlichen Dokumente. Ihre Legenden wurden mündlich von Generation zu Generation vererbt. Mündliche Überlieferung hat in Ecuador also eine lange Tradition.

In meiner Familie gab es diese verbale Tradition auch. Meine Oma war eine großartige Erzählerin, und meine Mutti hat das von ihr geerbt. Sie gab mir das weiter.

Ich wollte, dass die Geschichten nicht mit der Zeit verschwinden und verloren gehen. Das wäre schade. Deswegen habe ich sie in meinem Gedächtnis archiviert und begonnen sie aufzuschreiben. Und das mache ich jetzt seit etwa zehn Jahren.

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Der Ilinizas: Rosa’s Ahnen lebten in 5248 Metern Höhe in den Anden.

4) Wer hieß Deine Oma?
Ermelinda. Sie stammte von Indianern, die bis heute in den Anden leben. Das Dorf im Gebirge Ilinizas hieß Chilcapamba und liegt gleich neben dem Cotopaxi, dem größten aktiven Vulkan der Welt. Ich glaube, die Ahnen meiner Oma hatten  sich mit den Spaniern gemischt.

5) Chilcapamba – das klingt so fern und anders.
Es bedeutet so viel wie das „Tal der Chilca“. Chilca ist eine sehr widerstandsfähige Pflanze, die nur in den Anden wächst.

6) An was erinnerst Du Dich, wenn Du an Deine Oma denkst?
Sie hatte immer viel zu tun. Wir waren eine große Familie. Sie war sehr beschäftigt mit dem Haushalt, vor allem mit der Vorbereitung der warmen Mahlzeiten, denn davon gab es an jedem Tag drei.

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Drei warme Mahlzeiten pro Tag – die Ecuadorianer sind so „schlimm“ wie die Indonesier. 😉

Sie war also ständig in der Küche und bereitete alles selbst zu: Leckereien wie Schmorbraten mit Erdnusssoße und Salzkartoffeln.

Wir halfen ihr, haben die Erdnüsse vorbereitet oder Kartoffeln geschält. Dabei hat sie uns Ratschläge fürs Leben gegeben. Zum Beispiel, dass Kinder immer gehorsam sein müssen, sonst kommen die Kobolde und werden sie holen.

7) Oh, okay. Was für Ratschläge hatte sie noch?
Meine Oma und meine Mutter auch waren sehr starke Persönlichkeiten. Frauen, die viele Schwierigkeiten bewältigen mussten. Sie gab meiner Mutter viele Ratschläge. Einige davon waren sehr gute, andere passten nicht mehr in die Zeit. Sie sagte zum Beispiel: „Koche niemals zu wenig, man weiß nie wer zum essen kommt!“

Bei uns gab es ständig unangemeldete Gäste, die just auftauchten, als Essenzeit war. Ich konnte damals nicht kochen, und meine Mutter meinte immer: „Wenn Du nicht kochen kannst, dann findest Du keinen Ehemann“. Ich erwiderte: „Dann werde ich nicht heiraten“.

Tatsächlich kam ich in die Ehe ohne Kochen zu lernen. Mein Mann kochte aber so schlecht, das kochen lernen musste. Heute liebe ich es, zu kochen!

8) Lebt Deine Oma noch?
Sie ist vor 25 Jahren gestorben. Sie litt unter Alzheimer, aber sie hatte immer wieder klare Momente, in denen die Geschichten aus dem alten Dorf hochkamen. Ich habe diese Erinnerungen in meinem Gedächtnis behalten, bis ich mich eines Tages dazu entschied sie aufzuschreiben.

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Life in Ecuador

9) Was ist die Moral von „Agucho und der Kobold aus den Anden“?
Agucho wurde von dem Kobold in ein Schaf verwandelt, weil er seine Herde vernachlässigt hatte und weil er ungehorsam gegenüber seiner Mutter war. Er zeigte aber dann Reue, und darum war der Kobold gnädig mit ihm. Deswegen und wegen der schönen Murmelsteinen, die aus Aguchos Fell fielen.

10) Wie unterscheiden sich die Märchen Deiner Oma von denen aus Deutschland zum Beispiel?
Ich kenne die Märchen der Gebrüder Grimm: „Schneewittchen“, „Rotkäppchen“ und so weiter. Als ich „Agucho und der Kobold aus den Anden“ aufschrieb und übersetzte fiel mir auf, dass die Geschichte – so wie sie meine Großmutter mir erzählte – nicht für Kinder geeignet war. Zumindest nicht für deutsche Kinder.

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Rosa’s Taufe (ohne Oma).

Die Märchen aus dem katholischen Ecuador haben viel mit Gott und dem Teufel zu tun. Die ursprüngliche Geschichte meiner Oma war gruselig: Der Kobold war ein Dämon, der die Kinder in die Höhle brachte, wenn sie ungehorsam waren. Sie jagte uns damit Angst ein! So konnte ich die Geschichte nicht den deutschen Kindern erzählen.

Eigentlich sind meine Geschichten nicht für Kinder gedacht, sondern für Erwachsene.

11) Was war die Lösung?
Ich änderte die Geschichte und passte sie an die deutsche Gesellschaft an. So pädagogisch wie ich nur könnte. Eine Freundin aus Ecuador, die Pädagogin ist, gab mir Ratschläge und führte mich ein bisschen in der Welt der Geschichten für Kinder ein.

12) Und wie war die Vorlesestunde im Museum für Völkerunde?
Ziemlich gut. Deutsche Kinder sind ja gut erzogen und mögen das Lesen.

In diesem Jahr habe ich auch auf einer Weihnachtsfeier Kindern aus Ecuador vorgelesen. Am Ende der Geschichte waren nur noch der Weihnachtsmann und ich da. Alle anderen waren weg. Und der Weihnachtsmann war eingeschlafen…

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