Der Lauf der Zeit

Dokumentation: "T I M E S W I N G S - Hanne Darbovens Kunst"

„Ich schreibe mathematische Literatur und Musik“, sagt  sie. Wer dies nicht verstehe sei „unglaubwürdig und intolerant.“

Das sitzt.

Zumindest bei Zuschauern wie mir, die noch nie mit ihrem Werk in Berührung gekommen sind. Leicht erschließbar ist es jedenfalls nicht.

Regisseur Rasmus Gerlach („Gefahrengebiete & Andere Hamburgensien“) begegnete Hanne Darboven (1941-2004) bereits zu Lebzeiten, filmte ihre Ausstellungen und auf Privatfeiern und lässt in seinem Porträt auch Familie, Freunde, Mitarbeiter und Wegbereiter zu Wort kommen. Die Doku ist ein Türöffner in die Welt der Konzeptkünstlerin aus HH-Harburg, macht sie greifbarer.

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„Timeswings – Hanne Darbovens Kunst“ (D 2016)

Hamburgs vielleicht berühmtester Kunstexport – Darboven war Stammgast bei den Documentas, heute widmen ihr große Museen auf der ganzen Welt Ausstellungen – verwandelte gelebte Zeit und Geschichte in Zahlen, Buchstaben und Noten.

Der Grundstock ihres Schreibsystems zum Lauf der Zeit waren dabei die Quersummen von Kalenderdaten.

Ihre letzte Ausstellung, „Hommage à Picasso“ im Guggenheim Berlin (2006) war ein Meer aus 9720 Schriftblättern, die sie in 270 mit Hieroglyphen bemalte Tafeln einfassen ließ. Bis zu sechs Meter ragten sie in die Höhe.

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Foto: Gerd de Vries

Die Tochter einer Kaufmannsfamilie war so außergewöhnlich/exzentrisch wie ihre Kunst: Sie lebte im ländlichen Süden Harburgs mit ihrer Mutter, aß wenig, rauchte viel und liebte vor allem ihre Ziegen. Je älter sie wurde, desto kürzer wurde die Frisur, weil „sie sich nicht von ihren Haaren terrorisieren lassen wollte“.

Je nach Sichtweise war sie ein mönchisch-diszipliniertes oder manisches Arbeitstier. Jeden Morgen ab vier Uhr saß sie an ihrem Schreibtisch und notierte stundenlang ihre Zahlenkolonnen in präziser Hand- und Maschinenschrift.

In der Öffentlichkeit gab Darboven oft den unnahbaren Dandy, trug dunkle, maßgeschneiderte Herrenanzüge und verunsicherte mit Vorliebe Journalisten („keine Worte mehr!“). Der Kunstprofessor Kasper König attestiert ihr eine „aristokratische, hölzerne Würde“ und „herausfordernde Arroganz.“

In ihrem alten Gutshaus – ein Sammelsurium aus Trödel, Spielsachen, Souvenirs, Bildern und vielem mehr – hängen ihre gerahmte Zahlenwerke aus Platzmangel wie Tapete an den Decken. Das überbordende Chaos steht im krassen Gegensatz zu der minimalistischen Kühle und mathematische Strenge ihrer Kunst. Sehr wahrscheinlich hat aber auch das Chaos im Bauernhaus System.

Es gibt einen besonders lustigen Moment in der Doku. Einmal fragt Regisseur Gerlach einen Museumsdirektor aus München nach Darbovens „crazy house“. Dieser guckt pikiert, holt tief Luft und sagt, er sähe das überhaupt nicht so. Vielmehr sei dieser Ort „die Arbeit eines enzyklopädischen Geistes, ein Haus voller Entdeckungen.“

Hanne Darboven Stiftung

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