Flucht nach vorn

Nur raus aus der Türkei: Freiwillig und ohne seine Familie ist Berat A.* nach Hamburg geflohen, weil seine Heimat nicht mehr dieselbe ist. Die Flüchtlingsgeschichte eines Deutschtürken. (März 2017)

Seine Flucht war weitaus weniger dramatisch, beschwerlich und gefährlich als bei vielen anderen Vertriebenen: Er kam nicht etwa im Boot oder nach einem langen Fußmarsch nach Europa, sondern per Direktflug. Auch sich zu integrieren und eine neue Existenz aufzubauen, sollte ihm leichter fallen: Berat ist in Hamburg groß geworden. Statt eines Taschengelds erhält er Hartz IV und statt in einem Flüchtlingsheim wohnt der 52-Jährige in einer Fünfer-WG. Mehr noch: Dank seiner doppelten Staatsbürgerschaft kann sich der langjährige und nun arbeitslose Facharzt sicher sein, dass er bleiben darf. Klingt mehr nach Auswanderer als nach Flüchtling? „Mir ist klar, dass ich eine gute Ausgangsposition habe“, sagt er in perfektem Deutsch. „Ich bin ein Spezialfall.“

Sprechstunde im Dönerladen
Im Verlauf des Gesprächs in seinem Lieblings-Kebap-Laden spürt man, wie sehr Berat seinen Job vermisst – und auch beim genaueren Hinsehen fällt es auf: In der Brusttasche seines Hemds stecken drei Kugelschreiber – so, wie man es von einem Doktor kennt. Unerwartet kommt eine ältere türkische Dame auf ihn zu, weil sie eine Frage an den Arzt im Exil hat. Berat schaut sich ihre Röntgenbilder an und für ein paar Minuten wird der Imbiss zum Sprechzimmer. „Ich habe dem Besitzer gesagt: ‚Wenn deine Gäste Beschwerden haben, können sie mich ansprechen.‘ Ich gebe ihnen dann Tipps, mehr darf ich ja zurzeit nicht.“

Nicht im Traum hätte Berat daran gedacht, wieder einmal in Deutschland zu leben. Doch dann kam der Putschversuch am 15. Juli 2016. Wenige Tage danach ging Berat zur Arbeit und stand vor verriegelter Tür. Das Universitätskrankenhaus, in dem er über 20 Jahre lang als Facharzt gearbeitet hatte, wurde über Nacht geschlossen, so wie viele andere Institutionen, Schulen und Vereine nach Einführung des Ausnahmezustands. Alle Mitarbeiter – von den Chefärzten bis zur Putzkolonne – wurden entlassen. Kurz danach wurde das Hospital unter neuem Namen und mit neuem Personal als staatliches Krankenhaus wiedereröffnet.

Einen richterlichen Beschluss oder eine offizielle Begründung für den Kahlschlag gibt es bis heute nicht. Warum das Krankenhauspersonal ausgetauscht wurde, ist jedoch kein Geheimnis: Das Krankenhaus wurde einst von einer Gemeinschaft gegründet, zu der auch Sympathisanten des Predigers Fethullah Gülen zählten. Dessen Bewegung wird vom türkischen Präsidenten Erdoğan für den gescheiterten Umsturz verantwortlich gemacht. „Dabei habe ich einfach gearbeitet und nichts mit Politik oder der Gülen-Bewegung zu tun gehabt“, beteuert Berat.

Illu: Tanja Laböck

„Geh doch“, sagten seine Kollegen und Freunde
In der Post-Putsch-Türkei stand der zweifache Familienvater vor der Entscheidung, entweder in der Türkei zu bleiben, dort womöglich keinen neuen Job zu finden und schlimmstenfalls wegen der vagen Verbindung zur Gülen-Bewegung unter Terrorverdacht zu stehen. Oder die Flucht nach vorn: in Deutschland einen Job als Arzt finden und dann seine Familie nachholen. Berats Frau wollte nicht, dass ihr Mann sie und ihre Kinder in der Krise verlässt. Berat vermutet heute, sie sei von den

Ereignissen überwältigt gewesen. Viele seiner ehemaligen Kollegen, von denen einige inzwischen in privaten Krankenhäusern untergekommen sind, rieten ihm zum Abschied. „‚Geh doch‘, sagten sie“, erinnert er sich. „Hätten wir deine Möglichkeiten, wären wir schon längst weg.“ Nur wenige Tage nach seinem Rauswurf stieg Berat in den Flieger. Mit seiner Frau verblieb er so, dass sie erst mit den beiden Kindern nach Hamburg kommen sollte, wenn alles „eingerichtet“ sei. Das war vor sechs Monaten.

Alles ist möglich, selbst ein Bürgerkrieg.
Nachdenklich sagt er: „Ich habe eine Vorstellung davon, was in der Türkei noch alles passieren kann. Es könnte mich jederzeit irgendjemand anschwärzen und als Staatsfeind deklarieren. Erdoğan hat die Verfassung praktisch ausgesetzt und verwandelt das Land in eine legale Diktatur. Wie lange er Präsident bleibt, weiß keiner – Saddam war auch über 25 Jahre lang an der Macht. Alles ist möglich, selbst ein Bürgerkrieg. So kann man nicht vernünftig leben: Ich möchte nicht, dass meine Kinder so aufwachsen und will ihnen eine Zukunft bieten. Darum bin ich hier. Je eher ich damit anfange, desto eher bin ich fertig.“

Mit einem Koffer landete Berat in Hamburg. Die ersten zehn Tage lebte er im Hotel, bevor er ein WG-Zimmer fand. Bei Ebay Kleinanzeigen besorgte er sich kostenlos Kleider und Möbel, seine größte Investition war ein Fahrrad für 70 Euro.

Bei einem Spaziergang durch Eimsbüttel wird der ansonsten so rationale Berat schwermütig. Erinnerungen an seine eigene Kindheit und seine Kinder kommen hoch. 13 Jahre hat er hier gelebt. Er kaufte am Isemarkt ein, besuchte Verwandte und kurvte mit seinem Rad durch das Hoheluft-Viertel, bevor er mit seiner Familie wieder in die türkische Heimat zog, „Wenn ich Kinder auf der Straße spielen sehe, werde ich traurig“, sagt er. Darum gehe er erst zu Bett, wenn er todmüde sei und sicher, dass er sofort einschlafen werde. „Sonst denke ich zu viel nach.“

Make Turkey great again: Desinformation und Hexenjagd

Berat vermisst Frau und Kinder, aber sie zu besuchen, steht für ihn nicht zur Debatte – zu groß ist die Sorge, dass er am Flughafen in der Türkei wegen irgendeines Verdachts verhaftet werden könnte. Zumal ihm dort seine doppelte Staatsbürgerschaft nichts bringen würde: In der Türkei gilt seine türkische Staatsbürgerschaft und im Notfall darf er nicht auf konsularische Hilfe deutscher Behörden hoffen.

Er hat mehr freie Zeit als ihm lieb ist. Früher habe er viel gemalt, aber hier hat er keine Muße für die Kunst. Er geht regelmäßig in die Moschee. Manchmal schaut er sich kostenlose Konzerte oder Ausstellungen an oder besucht Verwandte. Freunde hat er kaum. Jetzt im Winter liest er noch mehr als sonst. Zeitung, aber auch Fachliteratur, um sein Medizin-Deutsch zu verbessern. Er hat die Bibel gelesen, „um die Christen besser zu verstehen“.
Und er schreibt an einem kleinen Buch, „eine Herausforderung zum Denken, aber auch, ehrlich mit sich zu sein.“ Offen spricht Berat nur mit einem kleinen Kreis von Menschen. Jene seiner Landsleute, die kompromisslos zu Erdoğan halten und diesen kultartig feiern, hält er für „Getäuschte und verwirrte Leute, die gar nicht verstehen, was im Moment in der Türkei passiert, weil sie von den Erdoğan-Medien nur mit Desinformation vollgestopft werden. Die denken nur an: ,Make Turkey great again‘“.

Illu: Tanja Laböck

Online-Portale zum Spitzeln
Dass Erdoğans Einfluss weit über die Grenzen der Türkei reicht, ist bekannt. Denunzieren ist auch in Deutschland kinderleicht: Die Regierung stellt für Spitzel Telefonnummern, E-Mail-Adressen und Online-Portale bereit. Berat erzählt, wie selbst der Besitzer des Kebap-Ladens schon von türkischen Kunden nach seiner politischen Haltung gefragt worden sei. Seine smarte Antwort: „Ich verkaufe nur Döner.“ „So fanatisch sind viele Türken schon“, sagt Berat. „Es ist eine Hexenjagd.“ Darum will er in

diesem Artikel keinesfalls zu persönlich beschrieben werden. „Ich könnte still sein und nur an mich denken, aber ich sehe es als meine Verantwortung und Pflicht an, die Menschen zu informieren, was in der Türkei passiert und sie aufzurütteln.“ Seine Frau weiß von dem Interview nichts. Sie wäre der Meinung, dass er sich bewusst in Gefahr begibt und würde sich darüber ärgern, da ist sich Berat sicher.

Qualifiziert, aber ohne Job

Ansonsten ist in seinem Leben momentan kaum etwas sicher. Auch die Suche nach einer Anstellung hat er sich anders vorgestellt: Schneller, reibungsloser, respektvoller. Immer wieder zitiert er Angela Merkel, die doch angeblich qualifizierte Fachkräfte integrieren wolle. „Bessere Leute wie mich kann man doch eigentlich nicht finden“, sagt er, blättert in seiner Bewerbungsmappe und holt die lange Liste seiner wissenschaftlichen Publikationen hervor. Das System sei überfordert. Allein drei Monate habe er auf einen Termin mit dem Arbeitsvermittler warten müssen. „Drei Monate!“, ruft er empört.

Aktuell wartet er auf seine Approbation, die ärztliche Berufserlaubnis. Die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz verlangt jedoch einen Nachweis über die Anzahl der Stunden, die er einst an der Uni studiert hat. Kann er diesen nicht liefern, droht eine Prüfung vor der Ärztekammer. „Das ist doch Irrsinn, ja, eine Beleidigung!“, schimpft er. „Viele Syrer etwa können überhaupt nichts vorweisen. Sollen die alle noch mal zur Schule?“ Dann setzt er ein gequältes Lächeln auf und versucht es mit einem Witz: „Dies ist der längste Urlaub meines Lebens.“

„Ich muss gucken, was die Zukunft bringt“, sagt Berat. Bis Ende des Jahres will er sich noch Zeit geben. Dann will er sehen, wo er mit seiner Jobsuche steht, wie sich die Lage in der Türkei entwickelt hat und seine Möglichkeiten neu bewerten. Vielleicht sei ein anderes Land ja eine Option. „Das einzig Gute ist, dass die Familie meiner Frau in der gleichen Stadt wohnt und sie unterstützt. Wie lange das noch machbar ist, weiß ich nicht“, sagt er. „Ich bin nun mal vorweg gegangen. Und auf halbem Weg kann ich nicht mehr zurück.“

* Name geändert

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